Ursula von der Wense ist Kinderkrankenschwester und systemische Beraterin. Sie begleite junge Familien in der schwierigen Startphase. Wir haben sie kennen gelernt, als unsere mittlere Tochter viele Wochen auf der Intensivstation für Früh- und Neugeborene der Unikinderklinik Bonn lag.
Schon im November hat mir Ursula ein paar Fragen beantwortet. Dabei ging es um die Geburt und Familien, die mit einem kranken Kind im Krankenhaus sein müssen. Heute geht es um die erste Zeit mit dem Neugeborenen und darum, was Eltern tun können, wenn Babys nicht schlafen wollen oder sich nicht beruhigen lassen.

Frage: Geburtsvorbereitungskurse bereiten Eltern auf die Geburt vor. Aber auf die erste Zeit zu Hause waren wir nicht so richtig vorbereitet: Wenig Schlaf, neue Aufgaben und eine andere Aufgabenteilung haben uns als Paar vor ganz neue Herausforderungen und nicht selten an den Rand der Verzweiflung gebracht. Dadurch waren wir oft nicht die Eltern, die wir eigentlich sein wollten. Was können Eltern deiner Erfahrung nach tun, um gut in ihrer Rolle anzukommen?
Ursula: Dazu fallen mir mehrere Punkte ein. Eine Sache ist, sich bewusst zu machen, dass nicht nur die Kinder geboren werden, auch Eltern werden „geboren“. Sie wachsen in die Anforderungen hinein, lernen aus Erfahrungen, müssen ausprobieren, was gut zu ihnen passt und was nicht, dürfen Fehler machen ohne dass die Welt untergeht. So wie ihr Baby Zeit braucht, um in dieser Welt richtig anzukommen, werden sie auch Zeit brauchen, um zusammen mit dem Baby als Familie anzukommen. Die Eltern zu sein, die man gerne wäre, ist ein Prozess, der neben den eigenen Vorstellungen, auch davon geprägt ist, was das Baby für eine Persönlichkeit hat. Es verändert sich auch je nach Alter der Kinder.
Es kann sehr hilfreich sein, sich in der Schwangerschaft bewusst Zeit als Paar zu nehmen, um sich darüber auszutauschen, was jeder von beiden für Vorstellungen von Familie hat, welche Erfahrungen man aus der eigenen Kindheit schätzt, welche schwierig waren, welche Werte einem wichtig sind, was in den eigenen Augen gute Eltern ausmachen, welche Sorgen und Befürchtungen einen beschäftigen, wie man sich die Aufgaben- und Rollenverteilung vorstellt und was einem sonst noch wichtig ist. Das nach der Geburt beizubehalten, hilft aneinander dranzubleiben.
Auch wenn es eine Herausforderung ist, ist es wichtig über dem „Eltern-werden“ das „Paar-bleiben“ nicht aus dem Blick zu verlieren, sich vielleicht vorher schon zu überlegen, wie das mit einfachen kleinen Worten, Gesten und Taten im ausgefüllten Alltag möglich gemacht werden kann.
„Gnädig-sein“ mit sich selbst, mit dem Partner und mit dem Baby ist ein Lernprozess, der auch für andere Kontexte hilfreich ist. Ich habe neulich den folgenden Satz gelesen: „Frag dich mehrmals am Tag, wie es dir geht und dann höre dir liebevoll zu.“
Frage: Die sozialen Medien und die Werbung prägen ein sehr perfektes und durchgestyltes Bild vom Leben mit Babys und Kindern. Ich erlebe bei Müttern viel Druck und Angst. Die Intuition und das Hören auf das eigene Bauchgefühl bleiben dabei auf der Strecke. Welche Auswirkungen hat das auf Familien? Und was rätst du Eltern, die merken, dass es bei ihnen nicht richtig rund läuft?
Ursula: Ich habe den Eindruck, dass der Druck eine Super-Mutter (oder ein Super-Vater) zu sein in den vergangenen Jahren noch zugenommen hat. Wie du schon sagst, haben da die sozialen Medien und auch die Werbung einen großen Anteil. Sowohl die Belastung durch Beruf, fehlende Entlastung durch nahe Familienangehörige und Schnelllebigkeit steigt, als auch der Anspruch, perfekt auf die Kinder einzugehen, prompt und liebevoll auf ihre Bedürfnisse einzugehen, sie ideal zu fördern und Probleme und Schwierigkeiten von ihnen fern zu halten. Darüber hinaus möchte man noch nach außen das Bild der zufriedenen, entspannten und glücklichen Familie abgeben. Von außen betrachtet liegt es auf der Hand, dass das gar nicht schaffbar ist. Wenn man in der Situation ist kann man das oft nicht so wahrnehmen, fühlt sich überfordert, sucht aber die Schuld bei sich und nimmt sich noch mehr vor, sich zusammen zu reißen und es morgen besser zu machen. Die Auswirkungen davon sind häufig Belastungen der Paarbeziehung, der Beziehung zum Kind, Erschöpfung, Schuldgefühle und Überforderung.
Donald Winnicot, ein britischer Kinderarzt und Begründer der Kinderpsychotherapie, hat 1958 den Begriff der „hinreichend guten Mutter“ (good enough Mother) geprägt.
Kinder sind von Natur aus widerstandsfähig und großzügig was Fehler betrifft, mehr als wir oft denken.
Deshalb brauchen sie keine perfekten sondern eben „nur“ hinreichend gute Eltern. Die Energie, die Eltern dadurch sparen, nicht mehr perfekt sein zu „müssen“ steht ihnen für andere Dinge zur Verfügung. Kinder und auch schon Babys lernen von ihren Eltern intuitiv durch Beobachtung. Indem Mütter und Väter ihren Kindern vorleben, dass sie Fehler machen, Grenzen haben, dafür einstehen und die Verantwortung übernehmen, lernen Kinder, dass auch sie ihre Grenzen wahrnehmen, achten und anderen gegenüber vertreten dürfen und auch Fehler zum Leben dazu gehören. So lernen Kinder ihre Eltern kennen wie sie sind und nicht nur deren perfekte Rolle. „Hinreichend gute Eltern verlangen weder von sich noch von ihren Kindern Perfektion, die nicht gelingen kann.“ Es nimmt viel Druck raus, wenn Eltern sich nicht vornehmen, perfekt auf ihr Kind einzugehen, sondern das Beste zu tun, was unter den gegebenen Umständen möglich ist – und das ist heute nach einer durchwachten Nacht etwas anderes als morgen, wenn das Baby wundersamerweise sechs Stunden am Stück geschlafen hat.
Familien, die erleben, dass bei ihnen nicht alles rund läuft, vermittle ich in meiner Arbeit als erstes, dass das der typische Alltag von jungen Familien ist, sie trotzdem alles richtig machen und das Bild, das von Werbung und Social Media geprägt ist, einfach nicht der Realität entspricht. Dann schaue ich mit ihnen gemeinsam, wie sie ihre Ansprüche und ihre Kräften gut aufeinander abstimmen können und wo die Prioritäten liegen, die dann das Handeln bestimmen. Wir schauen welche Entlastungsmöglichkeiten und Mini-Oasen es gibt, die die Kraftreserven auffüllen helfen. Eine weitere hilfreiche Möglichkeit ist es, sich Verbündete in ähnlicher Situation zu suchen, denen Ehrlichkeit und gegenseitige Unterstützung auch wichtiger ist, als ein perfektes Bild nach Außen. Wenn ein neues Baby in der Familie ankommt verändern sich massiv die Prioritäten. Das darf auch das Umfeld mitbekommen und bemerken.
„Es ist nicht möglich eine perfekte Mutter zu sein, aber es gibt Millionen verschiedene Wege eine (hinreichend) gute Mutter zu sein.“


Frage: Es ist völlig normal, dass Babys abends nach einem aufregenden Tag unruhig sind und dass sie noch nicht durchschlafen. Aber es gibt auch die sogenannten „Schreibabys“ oder Babys, die so gar nicht schlafen wollen. Ab wann sollten sich Eltern Hilfe holen und wo können sie sie bekommen? Wie hilfst du Eltern, die mit „schwierigen Babys“ zu dir kommen?
Ursula: Eltern von „schlaflosen“ und/oder „untröstlichen“ Babys suchen oft den Grund für das Verhalten ihres Babys bei sich selbst und leider wird diese Sichtweise häufig vom Umfeld noch bestätigt („Wenn du entspannter wärst, wäre dein Baby es auch“). Das verstärkt die ohnehin sehr belastende Situation noch mehr und die Grenzen des Machbaren sind schnell erreicht. Sobald Eltern sich durch die Situation stark belastet fühlen, ist es sinnvoll, sich Hilfe zu holen. Das kann je nach eigener Geschichte, Begleitumständen, sozialem Netzwerk und vielen anderen Faktoren bei jeder Familie zu einem anderen Zeitpunkt sein. Sich Hilfe zu holen, ist eine Bewältigungsstrategie und kein Versagen. Häufig lassen sich auch leichter Lösungen finden, wenn das Problem noch nicht so lange besteht.
Hilfe gibt es zum Beispiel in Schreibabyambulanzen und beim Angebot der frühen Hilfen. Diese Angebote werden über die Krankenkasse bzw. die Kommunen finanziert. Darüber hinaus gibt es BeraterInnen wie mich, die Unterstützung, Beratung und Begleitung auf Selbstzahlerbasis anbieten. Beim Thema Schlafen, was häufig auch in Verbindung mit Schreien auftritt, arbeite ich nach dem Konzept des „familienorientierten Babyschlafcoachings“. Dabei gibt es keine Standardlösungen und Patentrezepte, denn das wird den Familien nicht gerecht. Es geht sowohl darum das Schlafen und Schreien bei diesem Baby in dieser Familie zu betrachten und mögliche Zusammenhänge zu entdecken, als auch die passenden, individuellen Lösungen zu finden. Ebenso ist es mir wichtig, nicht nur auf die problematischen Bereiche zu schauen, sondern mit der Familie auch den Blick darauf zu richten, was richtig gut funktioniert, was die schönen Augenblicke sind und welche besonderen Eigenschaften das Baby neben der Fähigkeit „ausdauernd und laut zu schreien“ und „trotz Müdigkeit den Schlaf hartnäckig zu vermeiden“ noch mitbringt.
Es ist niemals so, dass Babys nicht schlafen wollen. Es gibt Gründe, warum sie es nicht können.
Sie brauchen den Schlaf genauso sehr, wie ihre Altersgenossen und ihre Eltern. Manche Babys sind von Anfang an „reizoffener“, nehmen dadurch soviel auf, dass sie es nicht alleine schaffen zur Ruhe zu kommen. Selbst mit Unterstützung und Begleitung ist es noch eine große Herausforderung. Babys kommen mit unterschiedlichen Eigenschaften und Fähigkeiten zur Welt. Die Kombination aus beidem ist nach meiner Erfahrung der wichtigste Faktor dafür, ob ein Kind zufrieden, leicht zu beruhigen und ein guter Schläfer ist oder eben schnell aufgebracht, schwer zu beruhigen und mit dem Ein- und Durchschlafen überfordert ist. Das in der Beratung zu erfahren und die Rückmeldung zu bekommen, dass die Schwierigkeiten bestehen, obwohl man alles richtig gemacht hat, sorgt häufig schon für Erleichterung und Entlastung.
Es herrscht allgemein die Ansicht vor, dass sich richtiger Trost und gute Beruhigung dadurch zeigen, dass das Baby aufhört zu weinen oder zu schreien. Vielmehr ist aber so, dass es Situationen gibt, in denen das Baby durch das Weinen seine Geschichte erzählt, Spannungen abbaut, seinen Frust loswerden möchte.
Babys suchen dabei nicht in erster Linie Beruhigung, sondern vielmehr jemanden, der ihm zuhört, der da ist und der mit ihm diese Situation aushält.
Das ist ganz sicher nicht einfach, zumal Babyweinen Stress in uns auslöst und wenn es dann noch das eigene Baby ist, kostet es Überwindung, das Weinen nicht einfach beenden zu wollen, sondern zu begleiten, dem Baby zu sagen „Ich höre dir zu“, „Du kannst mir erzählen, was dich bedrückt“, „Wir halten das jetzt zusammen aus, dass eben gerade nicht alles gut ist“.
Liebe Ursula, vielen Dank, dass du meine Fragen beantwortet hast!
Ursula berät in Bonn und dem Rhein-Sieg-Kreis Familien zu den Themen Frühchen & kranke Babys, Schreibabys & schlaflose Babys sowie dabei, die eigene Rolle als Eltern zu finden. Wer sich für die Arbeit von Ursula interessiert, findet auf ihrer Seite „Das Kind schaukeln“ viele weitere Informationen und einen Blog mit vielen interessanten Artikeln.
P.S.: Dieser Post und die Werbung für die Arbeit von Ursula ist unbezahlt und unbeauftragt und kommt von Herzen, denn wir haben selbst erlebt, wie wichtig gute Hilfe und Unterstützung in schwierigen Lebenssituationen ist. Die Bildrechte für die Fotos in diesem Artikel liegen bei Ursula.)