Ursula von der Wense ist Kinderkrankenschwester und systemische Beraterin. Sie begleite junge Familien in der schwierigen Startphase. Wir haben sie kennen gelernt, als unsere mittlere Tochter viele Wochen auf der Intensivstation für Früh- und Neugeborene der Unikinderklinik Bonn lag.
Weil ich weiß, dass es nicht nur uns den Boden unter den Füßen weggezogen hat, als wir erfahren haben, dass unsere Tochter nicht gesund ist, und wir dankbar für Krankenschwerstern wie Ursula waren, habe ich ihr ein paar Fragen gestellt:
Frage: Liebe Ursula, ich habe neulich mit meiner Hebamme gesprochen, die mich bei meinen Schwangerschaften betreut hat. Sie sagte mir, dass sie keine Geburtsvorbereitungskurse mehr anbietet: „Die jungen Mütter wollen nichts mehr von Ruhe und Wochenbett hören!“. Du erlebst bei deiner Arbeit viele Familien mit ganz unterschiedlichen Herausforderungen. Was ist aus deiner Sicht wichtig für einen guten Start nach der Geburt?
Ursula: Spontan fallen mir drei Begriffe ein, die aus meiner Sicht für die Eltern wichtig sind für einen guten Start nach der Geburt: Zeit, Intuition und Mut.
Sich Zeit nehmen und sich Zeit geben, um in der Elternrolle anzukommen. Besonders beim ersten Kind ist das ein großer Wechsel Eltern zu werden und dabei trotzdem Paar zu bleiben. Das braucht Zeit, Anpassung, Ausprobieren, Gespräche und einen gnädigen Umgang miteinander und sich selbst. Mir begegnete einmal der Ausdruck „Flitterwochen als Familie machen“, der mir gut dafür gefällt und dem Beziehungs-/Bindungsaufbau eine Priorität gibt.
Die Zeit kann auch ein Nährboden für die eigene Intuition sein. Es gibt bei so gut wie allen Eltern die sogenannte intuitive Elternkompetenz. Der Zugang dazu ist manchmal etwas verschüttet durch zu viel Lesestoff zum Thema oder gut gemeinte Ratschläge aus dem Umfeld. Auch der eigene Anspruch alles von Anfang an richtig oder sogar perfekt machen zu wollen, steht dem manchmal im Weg. Aber wenn man sich drauf einlässt, kann die Intuition ein guter Wegweiser dafür sein, wie ich als Mutter, ich als Vater und wir als Paar die Elternschaft leben wollen und auch dafür, was unser Baby braucht. Aus vielen Modellen und Möglichkeiten das zu wählen, was am besten zu uns als Familie passt, ist ein lohnender Weg. Dieser Weg muss auch nicht von Anfang an festgelegt sein, sondern darf sich entwickeln.
Mein Eindruck ist, dass es inzwischen häufig Mut erfordert, sich als Familie die Zeit zu nehmen, die man braucht; Zeit, in der sich Mutter, Vater und Baby ein Stück zurückziehen, aber gerne Entlastungs- und Unterstützungsangebote aus dem Umfeld anzunehmen. Ebenso kann Mut gefragt sein, wenn die frischgebackene Familie ihren eigenen Weg gehen will und nicht den, der sich bei Eltern und Schwiegereltern, der besten Freundin, der Cousine des Schwiegersohns der Nachbarin oder im angesagtesten Elternratgeber bewährt hat.
Darüber hinaus gibt es noch viel zu dem Thema zu sagen, aber eines ist mir noch ganz wichtig: Es gibt immer wieder Faktoren, die es Eltern nicht leicht machen, nach und nach immer mehr in der Elternrolle anzukommen. Es braucht vielleicht auch etwas Mut, aber kann genau das richtige sein, sich Hilfe zu holen, wenn man in diesem Prozess, über ein erträgliches Maß hinaus, an seine Grenzen kommt.
Für das Baby sind, neben Nahrung und Windeln, für einen guten Start Sicherheit, Verlässlichkeit und Nähe besonders bedeutend. Alle drei brauchen in erster Linie nur die Präsenz der Eltern und keine weiteren dringenden Hilfsmittel. Dabei stellen sie viele Dinge, die nach dem eigenen Anspruch der Eltern unerlässlich sind in den Schatten, wie das fertig gestrichene und aufgebaute Kinderzimmer, den 5 in 1 Kinderwagen, … .
Frage: Manchmal läuft der Start nicht so, wie Eltern sich das wünschen oder ihn geplant haben. Kinder kommen viel zu früh zur Welt oder es stellt sich nach der Geburt heraus, dass es dem Kind leider nicht gut geht. Eltern verbringen dann viel Zeit im Krankenhaus oder bei Ärzten. Was sind aus deiner Erfahrung Dinge, die Eltern trotzdem tun können, um den gemeinsamen Start so gut wie möglich zu gestalten?
Ursula: Das klingt vielleicht etwas komisch, aber ein wichtiger Aspekt in meinen Augen ist, dass Eltern im Rahmen der Möglichkeiten gut für sich und füreinander sorgen. Das ist die Basis dafür, dass sie in dieser Ausnahmesituation auch gut für ihr Kind da sein können.
Soviel Zeit wie möglich bei ihrem Baby zu verbringen tut allen gut. Dabei aber auch zu berücksichtigen, was tatsächlich möglich ist: Der eigene Gesundheitszustand, die Nähe zum Wohnort, weitere Geschwisterkinder haben Einfluss darauf, wieviel Zeit in der Klinik zur Verfügung steht. Wie in vielen anderen Bereichen, spielt hier häufig auch die Qualität der Anwesenheit eine größere Rolle als die Quantität. Ich staune auch immer wieder darüber wie gut Eltern, trotz der Widrigkeiten und Herausforderungen, diese Situation meistern. Ebenso beeindruckt mich, wie die kleinen Babys sich mit den Gegebenheiten arrangieren, gerade auch in den Zeiten, in denen ihre Eltern nicht da sein können.
Ein Konzept, das hier ganz praktische Ansätze bietet stammt von der Schweizer Hebamme Brigitte Meißner. Ich versuche mal, es hier mit knappen Worten vorzustellen. Es beinhaltet :
- Den Herzensfaden: Die Mutter knüpft gedanklich einen Faden von ihrem Herzen zum Herzen ihres Babys. Er steht für die emotionale Bindung und ist unendlich dehnbar, das heißt, dass die Mutter (und auch der Vater) emotional mit ihrem Kind verbunden sein kann, auch wenn sie nicht direkt bei ihrem Kind ist. Ich bin davon überzeugt, dass das nicht nur die Mutter sondern auch das Kind spürt.
- Das Babygespräch: die Mutter spricht mit ihrem Kind, erzählt ihm davon, dass sie sich den Start auch ganz anders vorgestellt hat, was sie beschäftigt, in kindgerechten Worten. Immer in dem Maße, wie und wann es ihre eigene Verfassung zulässt. Dann können Eltern auch sinngemäß sagen: „…so hatten wir uns das nicht vorgestellt und hätten uns auch gewünscht, dass es anders gewesen wäre, aber wir machen jetzt was Gutes daraus.“ Meine Erfahrung zeigt mir, dass Babys auch das inhaltliche auf ihre Weise verstehen.
- Das Bindungsbad: Es holt sozusagen ein verpasstes Geburtserlebnis ein Stück weit nach. Es wird in der Regel nach der Entlassung aus dem Krankenhaus zu Hause durchgeführt. Während die Mutter mit nacktem Oberkörper, ausgestattet mit Handtüchern, auf dem Bett halb sitzt, wird das Baby vom Vater oder einer weiteren anwesenden Person gebadet. Dem Baby wird erklärt, dass es kein normales Bad ist, sondern gemeinsam mit der Mutter etwas nachgeholt wird, das sie verpasst haben. Nach einer Zeit wird das nasse, nackte Baby der Mutter auf die Brust gelegt und es wird sich viel Zeit zum Kuscheln und Genießen genommen. Das Bad kann im Abstand von ca. einer Woche mehrmals wiederholt werden.
Ich durfte das Bindungsbad schon mehrfach begleiten und es war jedes Mal sehr berührend, so etwas Kostbares miterleben zu dürfen.
Frage: Ich möchte gerne noch ein etwas schwieriges Thema ansprechen: Mit unserer mittleren Tochter haben wir erlebt, wie es ist, viel Zeit im Krankenhaus zu verbringen und von Ärztinnen und Ärzten sowie Krankenpflegerinnen und -pflegern sowie dem Tagesrhythmus dort abhängig zu sein. Wir waren dankbar für die Bemühungen und den Willen, sich mit der Krankheit unserer Tochter auseinander zu setzen und dankbar, dass wir sie in guten Händen wussten. Und doch war es schwierig, wenn wir sie nicht selbst auf den Arm nehmen oder wickeln konnten, wann wir wollten, sondern fragen mussten. Auch fanden wir es schwierig, die für uns wichtigen Informationen zu bekommen und bei den in der Medizin scheinbar üblichen Hierarchien durchzublicken. Welche Tipps kannst du Eltern geben, wenn ihr Kind medizinisch betreut werden muss? Wie können Eltern ein gutes Verhältnis zu Ärztinnen und dem pflegenden Personal herstellen und was können sie tun, wenn sie das Gefühl haben, dass etwas schief läuft?
Ursula: Wie du schon sagst ist es eine komische Situation andere Menschen zu fragen, ob man sein Kind wickeln, anfassen, rausnehmen darf. Dann muss man im Krankenhaus auch noch andere Menschen fragen, wie es dem eigenen Kind geht. Ärzte und Schwestern treffen die wichtigen Entscheidungen und als Eltern steht man so ein bisschen daneben. Diese besondere Situation erleichtert es den Eltern gerade nicht in ihrer Rolle als Mutter und Vater anzukommen. Wie damit umgegangen wird, ist natürlich auch von Klinik zu Klinik verschieden. Ich mache Eltern Mut, sich möglichst viel erklären zu lassen und zwar so, dass sie es verstehen und sich dafür Schwestern oder Ärzte rauszusuchen, mit denen die Chemie stimmt. Je mehr die Eltern verstehen, umso mehr können sie das, was bei ihrem Kind nötig ist, einordnen. Sobald das Baby belastbarer und stabiler wird, gehört es zum Glück inzwischen in vielen Kliniken zum Alltag, dass die Eltern dann mehr und mehr die Versorgung ihres Kindes übernehmen und dabei auch mehr eigene Entscheidungen treffen.
Wenn Eltern das Gefühl haben, dass etwas schief läuft, finde ich es wichtig, dass sie es ansprechen. Meine Erfahrung zeigt, dass vieles dadurch zu klären ist. Wenn es konkret eine Person betrifft, klärt man es im Idealfall direkt mit ihr. Da das nicht immer möglich ist, kann man sich aber auch an eine Schwester des Vertrauens oder die Stationsleitung wenden.
Frage: Wir haben im vierten Schwangerschaftsmonat erfahren, dass unsere Tochter schwer krank ist und mit großer Wahrscheinlichkeit nicht lange leben wird. Ich erinnere mich noch genau an diesen Moment und das Gefühl, dass mir der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Die Medizin macht heute sehr frühe Untersuchungen und Prognosen möglich und stellt Eltern damit vor eine wichtige Entscheidung. Du hast viele Familien mit schwer kranken Kindern kennen gelernt. Was würdest du Eltern mit auf den Weg geben, die in der Schwangerschaft erfahren, dass ihr Kind krank ist?
Ursula: Ich möchte den Eltern empfehlen, wenn das irgendwie machbar ist, sich nach so einer Nachricht Zeit zu nehmen. Es braucht Zeit, um diesen ersten Schock zu verdauen und dann braucht es Zeit als Eltern im Gespräch zu sein, Raum zu lassen für alle Gedanken und Gefühle die da sind, ohne sie bewerten zu müssen. Ich glaube, dass es hilfreich sein kann, sich über die festgestellte Krankheit näher zu informieren. Aus Gesprächen mit Eltern habe ich den Eindruck, dass einem nicht selten von den Ärzten eine Abtreibung nahegelegt wird. Eine Mutter sagte mir, dass sie mehrfach das Gefühl hatte sich rechtfertigen zu müssen, dass sie ihr Baby mit Trisomie 21 austragen und bekommen möchte.
Es ist am Ende eine Entscheidung, die die Eltern treffen und mit der sie leben können müssen. Ich finde es schade, dass die Möglichkeit der palliativen Geburt als Alternative zur Abtreibung wenig bekannt ist. Dabei wird das Baby, dass auf Grund seiner Erkrankung nicht lange leben wird, ausgetragen und lebt dann so lange wie es das aus eigener Kraft schafft. Das können Minuten, Stunden, vielleicht auch Tage und Wochen sein. Das ist dann aber Zeit, die man mit seinem Kind hat. Das erleben Eltern, die sich dafür entschieden haben, oft als eine sehr kostbar, bei aller Anstrengung und Belastung, die das auch mit sich bringt.
Auch hier passen wieder die drei Dinge vom Anfang: Zeit, Intuition und Mut.
Frage: Du betreust und hilfst Familien, die aus verschiedenen Gründen einen schwierigen Start mit ihrem Baby hatten. Wie gehst du bei deiner Arbeit vor?
Ursula: Wenn ich eine Anfrage habe, vereinbare ich einen Termin für ein erstes Telefonat oder ein erstes Treffen, was dann in der Regel bei der Familie zu Hause stattfindet. Bei diesem ersten Kontakt geht vor allem darum, sich erst einmal ein bisschen kennenzulernen und zu sehen, ob es menschlich passt. Ich erzähle auch etwas von mir und meiner Art zu arbeiten. Dann interessiert mich die Geschichte, die dazu geführt hat, sich Hilfe zu suchen. Ich muss gar nicht alle Details kennen, mir reicht das zu hören, was die Familie erzählen möchte. Vielen Familien tut es schon gut, ihre Geschichte erzählen zu können und Anerkennung dafür zu bekommen, was sie schon alles versucht haben. Dann möchte ich möglichst genau herausfinden, was das Anliegen der Familie, der Mutter, des Vaters ist. Denn es geht nicht darum, das in den Blick zu nehmen, was die Familie aus meiner Sicht braucht, sondern darum, was das Anliegen der Familie ist. Bei einem Baby, das sehr unruhig ist können es ganz unterschiedliche Anliegen sein, die die Familie hat: Mehr Schlaf für die Eltern, hilfreichere Strategien zur Beruhigung, das Baby in seinen Unruhephasen zu verstehen, die Belastung, die das mit sich bringt besser aushalten zu können… .
Wenn nach dem Treffen beide Teile zu dem Schluss kommen, dass mein Angebot und das Anliegen zusammen passen, gibt es weitere Termine.
Liebe Ursula, vielen Dank, dass du meine Fragen beantwortet hast!
Ursula berät in Bonn und dem Rhein-Sieg-Kreis Familien zu den Themen Frühchen & kranke Babys, Schreibabys & schlaflose Babys sowie dabei, die eigene Rolle als Eltern zu finden. Wer sich für die Arbeit von Ursula interessiert, findet auf ihrer Seite „Das Kind schaukeln“ viele weitere Informationen und einen Blog mit vielen interessanten Artikeln.
P.S.: Dieser Post und die Werbung für die Arbeit von Ursula ist unbezahlt und unbeauftragt und kommt von Herzen, denn wir haben selbst erlebt, wie wichtig gute Hilfe und Unterstützung in schwierigen Lebenssituationen ist. Die Bildrechte für die Fotos in diesem Artikel liegen bei Ursula.)
Edit: Teil 2 des Interviews findest du hier. In diesem geht es um die erste Zeit mit dem Neugeborenen und darum, was Eltern tun können, wenn Babys nicht schlafen wollen oder sich nicht beruhigen lassen.