2021 ist ein Superwahljahr. Neben sechs Landtagswahlen in den Bundesländern Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern steht auch eine Bundestagswahl an. Besonders ist auch, dass es nach über sechzehn Jahren eine*n neue*n Bundeskanzler*in geben wird.

Der Wahlkampf der Parteien macht mir jedoch nicht wirklich Lust auf das Wählen und die Auseinandersetzung mit Politik. Wie sinnvoll ist es, wählen zu gehen? Und funktioniert unsere Demokratie eigentlich noch? Unser Leben ist so komplex und unübersichtlich geworden. Der einzelne Bürger hat heute oft das Gefühl, dass Entscheidungen sehr lange dauern, an ihm vorbeigehen – und er im Zweifelsfall sowieso keinen Einfluss darauf nehmen kann.

In diesem Artikel habe ich mich ein wenig mit der Demokratie beschäftigt, aktuellen Herausforderungen, dem ursprünglichen Gedanken, der modernen Demokratie und warum es sinnvoll ist, (trotz allem) wählen zu gehen.

Demokratie
Material Demokratie Wahlen

Warum es aktuell schwierig ist, Vertrauen in die Demokratie zu haben

Es gibt aktuell sicher viele Schwierigkeiten und Herausforderungen. Einige möchte ich hier zusammenfassen:

Wir leben nicht mehr im alten Griechenland und können mit Tonscherben über alles abstimmen. Bei der Komplexität und mangelnde Transparenz heutiger demokratischer Entscheidungsverfahren haben viele den Eindruck, nicht mitbedacht und mitberücksichtigt zu werden. Verantwortlichkeiten sind in unserer Mehr-Ebenen-Demokratie, die von den Kommunen über die Länder, den Nationalstaat bis zur Europäischen Union reicht, meist für Bürger*innen nicht mehr erkennbar.

Politiker*innen und Parteien sollten eigentlich eine Vermittlungsfunktion zwischen der Gesellschaft und dem Staat erfüllen. Dies scheint jedoch sehr häufig nicht oder nur unzureichend zu gelingen, weshalb die Bürgerinnen und Bürger ihnen das Vertrauen entziehen und dies auch auf das demokratische System übertragen. Auch die Medien tragen ihren Beitrag zu dem Misstrauen bei: Unterhaltung ersetzt Information, Stimmungen treten an die Stelle von Inhalten.

Es tut sich eine Bruchstelle der repräsentativen Demokratie auf, die als zunehmende Distanz zwischen den Bürgerinnen und Bürgern einerseits und „der“ Politik, also den „Eliten“ von Politik und Medien andererseits, wahrgenommen wird. In diese Bruchstelle strömen Populismen ein, die wiederum Entfremdungsgefühle verstärken.“ (Vorländer, 2017)

Diese Tendenzen, dass einige Gruppierungen mit den schwachsinnigsten Aussagen Stimmung machen, spüre ich gerade sehr stark. Sie lassen mich kopfschüttelnd, hilflos und wütend zurück.

Was ist Populismus?

Populismus unterscheidet grundsätzlich zwischen „wir“ und „sie“, „oben“ und „unten“, „innen“ und „außen“. Damit werden kollektive Vorstellungen der Bedrohung konstruiert, die dem eigenen Ansinnen, dem „wir“ Sinn und Identität geben. Dabei gelten „wir“ als rechtschaffen, die „Elite“ als Betrüger oder Verräter. Das Schaffen einer angeblicher Homogenität legitimiert die Ansinnen des Populismus als Vertreter der „schweigenden Mehrheit“.

Populistische Einstellungen und Bewegungen scheinen in demokratischen Systemen bevorzugt dann zu entstehen, wenn das Gefühl auftritt, dass sich das Verhältnis einseitig zugunsten der repräsentativen Institutionen verschoben hat. Erleichtert wird Populismus durch die Tatsache, dass die Protagonisten komplexe Probleme auf einfachste Erklärungen reduzieren – ohne sich aber zwangsläufig für deren Lösung verantwortlich zu fühlen.

Warum Demokratie?

Ganz einfach gesagt: In einer funktionierenden Demokratie kann sich jeder und jede einzelne darauf verlassen, bestimmte Rechte und Freiheiten zu haben. Diese Rechte und Freiheiten gelten für alle Menschen gleichermaßen, egal ob sie reich oder arm sind, Mann oder Frau, Erwachsene oder Kinder. Jeder kann frei seine Meinung äußern. Niemand braucht Angst zu haben, bestraft zu werden, wenn er die Regierung kritisiert. Jeder kann mitbestimmen. Entweder, indem er einfach nur wählen geht oder indem er selbst politisch aktiv wird.

Etwas ausführlicher formuliert lassen sich moralische und pragmatische Gründe unterscheiden:

Die Demokratie ist das einzige Regierungssystem, das, zumindest theoretisch, das Prinzip der Autonomie des Einzelnen und das Prinzip der Gleichheit als grundlegend anerkennt. (Das Prinzip der Autonomie des Einzelnen: Niemand muss Regeln befolgen, die ihm/ihr von anderen aufgezwungen wurden. Das Prinzip der Gleichheit: Alle sollten die gleichen Einflussmöglichkeiten auf Menschen und Gesellschaft betreffende Entscheidungen haben.)

Ein pragmatischer Grund für ein demokratisches Regierungssystem könnte sein, dass die Hoffnung darauf besteht, dass die gewählten Repräsentant*inn*en im Sinne des Volkes und im Konsensverfahren entscheiden und Regierungsentscheidungen so vom Volk mit größerer Wahrscheinlichkeit respektiert werden.

Ich halte die Demokratie für eine großartige Idee, doch das System hinkt. Nur ein Beispiel: 38,2% der Wahlberechtigten in Deutschland sind 60 Jahre oder älter. Die Altersgruppe U30 machen lediglich 14,4% der Wählerschaft aus. Das klingt nicht fair. (Verstanden fühle ich mich da in dem Gastbeitrag von Peter Dabrock „Is mir egal, ich hinterlass das jetzt so„. Achim Goerres sieht das anders. „Wie wir wählen, hat nur noch sehr wenig mit dem Alter zu tun“ sagte er 2018 in diesem Interview.)

Was ist eine Demokratie?

Der Begriff „Demokratie“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet „Herrschaft des Volkes„. In Deutschland gibt es diese Staatsform seit 1949, zuvor gab es sie bereits einmal von 1918 bis 1933. In einer Demokratie haben alle Bürger und Bürgerinnen die gleichen Rechte und Pflichten.

Die Bundesrepublik ist eine repräsentative Demokratie. Das bedeutet, dass es Repräsentanten des Volkes gibt, die für eine begrenzte Zeit zur Machtausübung autorisiert sind. Nach Ablauf dieser Periode muss über die Zusammensetzung der Volksvertreter durch Wahl neu entschieden werden. Repräsentiert wird das Volk nicht nur in den gesetzgebenden Organen (Parlament, Rat), sondern auch in den gesetzesausführenden Organen (Regierung, Verwaltung).

Beim reinen Verhältniswahlrecht kann der Wähler eine Partei benennen, die seinen politischen Vorstellungen am nächsten kommt. Im Parlament sind die Parteien dann mit der Stärke vertreten, die ihrem Stimmenanteil entspricht. Beim reinen Mehrheitswahlrecht zieht aus jedem Wahlkreis derjenige Bewerber ins Parlament ein, der dort die meisten Stimmen auf sich vereint. Auch verschiedene Mischformen kommen vor.

Wichtige Bestandteile einer Demokratie sind: Meinungs- und Pressefreiheit, freie, geheime und gleiche Wahlen, das Mehrheits- oder Konsensprinzip, Minderheitenschutz, die Akzeptanz einer politischen Opposition, Gewaltenteilung (die Verteilung der Gesetzgebung (Legislative), der Gesetzesausführung (Exekutive) und der Gerichtsbarkeit (Judikative) auf drei verschiedene Staatsorgane), Verfassungsmäßigkeit und Schutz der Grund-, Bürger- und Menschenrechte.

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Informationsmaterial zur Demokratie, Wahlen

Wie sieht eine moderne Demokratie aus?

Spannend finde ich, Demokratie aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten: Sie ist sowohl eine Herrschaftsform (sie beinhaltet die Menschenrechte, gleiche Rechte, freie Wahlen, einen Parteienwettbewerb, Gewaltenteilung), eine Gesellschaftsform (sie beinhaltet Pluralismus, eine soziale Ausdifferenzierung, regelt friedliche Konfliktregelung, ist eine Zivilgesellschaft) als auch eine Lebensform (es gilt Fairness, Toleranz, eine Vielfalt der Lebensstile und Chancen, Solidarität und Selbstorganisation).

Damit ist Demokratie heute eine spezifische Form menschlicher, gesellschaftlicher und politischer Kooperation betrachtet (Vgl. Himmelmann, 2004). Sie ist damit ein gesellschaftlicher Lern-, Selbst- und Neuschöpfungsprozess, der von der Basis her immer wieder neu aufgebaut werden muss. Demokratie ist kein gesicherter Zustand und kann nicht allein als institutionelles Arrangement für die Staatsmacht betrachtet werden. Sie muss sich, quasi als soziales Experiment, in gewaltfreier sozialer Interaktion und in „Zusammenarbeit zu gemeinschaftlichen Zwecken“ stets – auch bei Rückschlägen – neu bewähren. Politische Demokratie, wie immer sie ausgestaltet sei, braucht damit eine gesellschaftliche Verankerung, um echt und dauerhaft lebensfähig zu sein.

Was braucht eine moderne Demokratie?

Die gesellschaftliche Verankerung der politischen Demokratie braucht: (Vgl. Himmelmann, 2004)

  • einen gesellschaftlichen Pluralismus auf ganz unterschiedlichen Ebenen: im sozialen, politischen und religiösen Bereich, in Verbänden, Vereinen und Initiativen. Damit müssten wir aber auch die Angst vor „anderem“ verlieren.
  • ein funktionsfähiges System der autonomen gesellschaftlichen Konfliktregulierung, also z.B. im Tarifvertragssystem oder bei der betrieblichen Mitbestimmung.
  • die Ausgestaltung eines fairen Systems von (sozialer und nachhaltiger) Marktwirtschaft (Sozialpolitik, Ökologie etc.),
  • eine freie und vielfältige Öffentlichkeit (Medien) und
  • ein breites öffentliches Engagement der Bürger (Zivilgesellschaft).

Klingt zu schön, um wahr zu sein? Der Philosoph John Dewey beschreibt eine „creative democracy“ als Lösung, um gemeinschaftlich angemessene Antworten auf die jeweils neuen Fragen und Herausfordeungen zu gewinnen. Hierfür braucht es seiner Meinung nach Neugier, Phantasie, Initiative und Kreativität, aber auch Engagement, Protest, Widerspruch und Widerstand gegen Ungerechtigkeit und Unfreiheit.

Demokratie ist also noch immer ein Zukunftsprojekt. Denn: Demokratien können auch scheitern, wenn wir nicht alle an diesem Projekt mitarbeiten.

„Mitarbeit“ und ein langer Atem werden dringend nötig sein. Denn egal wie die Wahl ausgeht, es gibt aktuell einige Themen, auf die wir eine Antwort finden müssen. Unsere Demokratie ist hier besonders gefordert und muss sich bewähren. Um nur einige Themen zu nennen: Die Coronapandemie, der Klimawandel, die Globalisierung, die Migrationsbewegungen und der Wandel der gesellschaftlichen Teilhabe bzw. die immer größer werdende soziale Trennschärfe.

Warum wählen gehen?

Der Weg zur Wahlurne sollte niemanden davon davon abhalten, wählen zu gehen. Durch die Möglichkeit der Briefwahl kann jeder bequem von zu Hause aus wählen. Aber es gibt noch weitere Gründe, wählen zu gehen:

  • Wir haben das Recht und das Privileg, Vertreterinnen und Vertreter zu entsenden. In vielen Ländern ist das nicht selbstverständlich.
  • Jede Stimme zählt. Die Entscheidung, wer das Land regiert, kann von wenigen Stimmen abhängen.
  • Wählen schützt vor Populismus und Extremismus. Wer nicht wählt, erleichtert es extremistischen Strömungen, einen größeren Einfluss auf unsere Gesellschaft und die Politik zu bekommen.
  • Nichtwählen aus Protest funktioniert nicht! Bei einer Nichtwahl fällt die Stimme einfach weg. Wer wählen geht, kann damit eine Partei klar der anderen vorziehen.
  • Wer darauf verzichtet zu wählen, verzichte ich auch darauf, meine eigene Zukunft mitzugestalten.
  • Durch Wahlen lässt sich die Politik beeinflussen. Die Politik wiederum nimmt Einfluss auf wesentliche Fragen des Alltags.

Was denkst du? Habe ich etwas vergessen? Lohnt es sich, sich für die Demokratie zu kämpfen? Lohnt es sich wählen zu gehen?

Quellen und weiterführende Literatur:

Warum eigentlich ist Demokratie die bessere Gesellschaftsform? – Ein Interview mit Hans-Gerd Jaschke, Professor für Politikwissenschaft an der Hochschule für Wirtschaft und Recht, Berlin. 2009. Abrufbar unter: https://www.belltower.news/warum-eigentlich-ist-demokratie-die-bessere-gesellschaftsform-31814/

10 Gründe zu wählen. lpb. Abrufbar unter: https://www.bundestagswahl-bw.de/warum-waehlen

fluter.: Thema Demokratie. Nr. 48 / 2013, bpb. Bestellbar unter: https://www.bpb.de/

Informationen zur politischen Bildung: Parlamentarische Demokratie. 3-4/2019, bpb. Bestellbar unter: https://www.bpb.de/

Informationen zur politischen Bildung: Demokratie. 1/2017, bpb. Bestellbar unter: https://www.bpb.de/

Dewey, J. (1974). Psychologische Grundfragen der Erziehung: Der Mensch und sein Verhalten. Erfahrung und Erziehung. München: UTB Reinhardt.

Dewey, J. (1993). Demokratie und Erziehung: Eine Einleitung in die philoso-phische Pädagogik (engl. Erstausgabe 1916 als „Democracy and Education“; Nachdruck der 3. dt. Auflage). Weinheim & Basel: Beltz.

Himmelmann, G. (2004). Demokratie-Lernen: Was? Warum? Wozu? – Beiträge zur Demokratiepädagogik Eine Schriftenreihe des BLK-Programms „Demokratie lernen & leben“. DIPF. Abrufbar unter: https://www.pedocs.de/volltexte/2008/216/pdf/Himmelmann.pdf

Vorländer, H. (2017): Demokratie – in der Krise und doch die beste Herrschaftsform?. bpb. Abrufbar unter: https://www.bpb.de/izpb/248593/demokratie-in-der-krise-und-doch-die-beste-herrschaftsform?p=all